Die eingeschränkten Erfolge der Organtransplantation sind, wie wir gesehen haben, u.a. auf Unterschiede der individuellen molekularen Gewebemuster (Allele) zwischen Spender und Empfänger zurückzuführen. Auch bei Elternpaaren ist zu erwarten, daß sie in der Regel mehr oder weniger stark unterschiedliche Gewebemuster tragen. Betrachten wir ihre Nachkommen, so stellen wir fest, daß die Kinder jeweils einen einfachen Chromosomensatz (Haplotyp) von Vater und Mutter geerbt haben. Dies bedeutet aber, daß bei jeder Schwangerschaft der mütterliche Organismus mit den für sie fremden Antigenen des Kindesvaters konfrontiert wird. Genau genommen haben wir hier eine ähnliche Situation vor uns wie bei der Organtransplantation. Wesentlicher äußerlich sichtbarer Unterschied ist die Tatsache, daß der Embryo in einer Schutzhülle aufwächst, die möglicherweise eine Abwehrreaktion des Immunsystems der Mutter verhindert. Tatsächlich gab es in den vergangenen 50 Jahren umfangreiche Untersuchungen mit dem Ziel, von dem Naturexperiment des „Embryos als Transplantat“ (Sir Peter Medawar,Nobelpreis 1960) zu lernen und diese Erkenntnisse auf die klinische Transplantationsspraxis zu überführen.
Was weiß man also heute über dieses paradox erscheinende Phänomen? Eines ist sicher: Das mütterliche Immunsystem kann das im immunologischen Sinne Fremde vom Vater stammende am Embryo durchaus erkennen und dagegen nachweislich mit der Bildung spezifischer Antikörper reagieren. Es ist vielleicht interessant zu wissen, daß ein Teil der in der Vergangenheit kommerziell verfügbaren spezifischen Testseren, mit denen die Gewebemuster bei der Typisierung bestimmt wurden, aus solchen Blutproben von Schwangeren nach der Geburt hergestellt und vertrieben wurden. Heute werden die serologischen Gewebetypisierungen allerdings mehr und mehr durch molekularbiologische DNS-Typisierungen ergänzt oder ersetzt.
Bleibt also die Frage: Was schützt den Embryo vor der mütterlichen Immunattacke? Die als Trophoblast bezeichnete Schicht im Uterus ist der Ort, an dem sich mütterlicher und kindlicher Blutkreislauf und damit die immunologisch unterschiedlichen Gewebe anatomisch sehr nahe kommen. Hier findet – hauptsächlich durch Diffusionsvorgänge – der Stoffaustausch zwischen beiden Kreislaufsystemen statt. Aber auch die Erkennung der fremden Gewebeantigene des Embryos. Wie erwähnt, können bei der Antwort des Immunsystems tatsächlich zytoxische Antikörper und zytotoxische Immunzellen gebildet werden. Jedoch bleibt eine Zerstörung des Feten aus. Gängige Theorien vermuten aus experimentellen Untersuchungen, daß entweder physikalische, anatomische oder biochemische (Hormone, Zytokine) Besonderheiten des Throphoblasten, das Fehlen oder die inkomplette Ausprägung väterlicher HLA-Antigene auf der Außenschicht des Throphoblasten oder die Suppressorzellaktivität fetaler Immunzellen dafür verantwortlich gemacht werden können. Dies erscheint verständlich, wenn man bedenkt, daß zur Immunattacke, also der Eliminierung des Fremden, nicht allein die Bindung des Immuneffektors (Antikörper oder spezifischer zytotoxischer T-Lymphozyt) ausreicht, sondern daß für die Realisierung der Kaskade weiterer zum Ziel führender Reaktionen viele Schritte erforderlich sind, die alle durch lokale Reaktionspartner beeinflußt werden können.
Zu den neueren Hypothesen gehört die Vermutung, daß das weiter oben beschriebene genetische Imprinting, also die gegenseitige Beflussung der Genexpression durch den mütterlichen bzw. väterlichen Anteil des Genoms in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Tolerierung des genetisch fremden Embryos steht.
Den Fall einer unbeeinflußten Immunreaktion zwischen Mutter und Fetus finden wir jedoch bei der sog. Rh-Unverträglichkeit. Das Rhesusmerkmal ist, wie bereits beschrieben, ein Oberflächenmerkmal auf den roten Blutkörperchen. Ist die Schwangere Rh-negativ – besitzt also das Rh-Antigen nicht – und der Vater des Kindes ist Träger dieses Erbmerkmals (Rh-positiv), so treten bei der ersten Schwangerschaft in der Regel keine immunologisch bedingten Komplikationen auf. Unter der Geburt können aber Erythrozyten des Feten in den Blutkreislauf der Mutter gelangen und ihr Immunsystem zur Bildung von Antikörpern anregen, die gegen Rh-Merkmale der Erythrozyten des Feten gerichtet sind, die er von seinem Vater geerbt hat. Die Mutter ist also, ähnlich der Situation nach einer Schutzimpfung, gegen dieses Antigen immunisiert (sensibilisiert) und behält das immunologische Gedächtnis für dieses Antigen, um bei einem erneuten Kontakt mit Rh-positiven Zellen schnell und verstärkt Antikörper zu produzieren und den Feten zu schädigen.
Dieser fatale Effekt tritt also erst nach weiteren Schwangerschaften ein. Dabei können die gebildeten Antikörper durch die Trophoblastenschranke (Plazenta) in das embryonale Gewebe eindringen und ihr vernichtendes Werk vollbringen. Folgen sind u.a. die Ausbildung einer schweren Gelbsucht, die Bildung eines Wasserkopfes oder gar die Abstoßung der Frucht. Um solchen Reaktionen vorzubeugen, besteht die Standardprophylaxe in der Verabreichung eines Gammaglobulinpräparates mit einem hohem Gehalt an Anti-Rh-Antikörpern nach der Geburt des ersten Rh-positiven Kindes mit dem Erfolg, daß 90% der möglichen Sensibilisierungen der gefährdeten Mütter verhindert werden konnten. Der Wirkmechanismus ist bisher nicht vollständig aufgeklärt. Zu erwarten wäre, daß diese von Außen zugeführten Antikörper den Feten schädigen, sie tun aber genau das Gegenteil. Hohe Schule der Immunologie. Vermutlich greifen die verabreichten Gammaglobuline regulativ in einen Suppressionsmechanismus ein, den wir heute noch nicht genau kennen.
Zu ergänzen wäre noch, daß analog zur Sensibilisierung der Mutter gegen Rh-Merkmale auch zunehmend Sensibilisierungen gegen andere Blutgruppenmerkmale beobachtet werden. Interessanterweise gibt es auch den umgekehrten Fall, bei dem Rh-negative Feten gegen Merkmale der Rh-positiven Mutter reagierten.
Fazit: Der Fetus trägt jeweils zur Hälfte mütterliche und väterliche Erbanlagen. Obwohl die Mutter gegen die von den väterlichen Erbanlagen kodierten Eiweiße nachweislich während der Schwangerschaft durch die Bildung gegen sie gerichteter Antikörper reagieren kann, bleibt eine Schädigung des Feten aus. Andererseits kann eine „Rh-negative“ Mutter bei der Geburt durch die Rh-Antigene der Frucht, die vom Vater stammen, sensibilisiert werden. Bei einer weiteren Schwangerschaft reagiert der mütterliche Organismus wie nach einer Schutzimpfung mit der Reaktivierung des immunologischen Gedächnisses und der Schädigung oder Abstoßung der Frucht.