Epigenetik

Wie kann es sein, daß eineiige Zwillinge, von denen ja angenommen wird, daß sie ein identisches Erbgut besitzen, oftmals so unterschiedlich aussehen oder Kinder „nach ihrem Vater oder ihrer Mutter kommen“? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein noch junger Forschungszweig, die Epigenetik.

So, wie es einen mehr oder weniger feststehenden genetischen Kode, nämlich die Aufeinanderfolge der vier verschiedenen Nukleotid-Bausteine, gibt, so existieren darüberhinaus weitere „epigenetische“ dynamische Kodes, die die Ablesung der genetischen Information der Nukleinsäuren dauerhaft beeinflussen und z.B. darüber entscheiden, welche ererbten Eigenschaften vom Vater und welche von der Mutter realisiert werden.

Während unseres individuellen Lebens ermöglichen es diese epigenetischen Veränderungen den Zellen, auf Umweltveränderungen und Einflüsse zu reagieren, ohne daß die DNS selber geändert werden muß. Allerdings ist diese Anpassung nicht immer von Vorteil für den Körper: Viele Krebsarten entstehen beispielsweise dadurch, daß die Gene für wichtige Reparaturenzyme oder Schutzmechanismen epigenetisch ausgeschaltet werden. Epigenetische Ursachen werden auch für die immensen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Stammzelltherapie und dem Klonen verantwortlich gemacht.

Wegen ihrer Bedeutung für die individuelle und dynamische molekulare Vielfalt sollen im folgenden drei wichtige epigenetische Faktoren erwähnt werden: (1) die epigenetische Prägung (imprinting), (2) die sog. RNS-Interferenz sowie (3) bestimmte Kerneiweiße (Histone). Die Erforschung dieser Faktoren gehört zu den heißen Themen der aktuellen biowissenschaftlichen Forschung. Sie bilden eine wichtige Grundlage für das Verständnis individueller genetischer Regulationsmechanismen. Gleichzeitig wird damit die Hoffnung verbunden, Zugang zu den Ursachen vieler Krankheiten und deren pharmakologischer Beeinflussung zu erhalten.

Epigenetische Prägung (genomic oder epigenetic imprinting) . Einen weniger dynamischen aber dafür nachhaltigen Einfluß auf die Ablesung bestimmter Gene hat die sogenannte epigenetische Prägung. Man versteht darunter, daß sich Chromosomen mütterlicher und väterlicher Herkunft, die ja in den Chromosomen in paariger Koexistenz leben, gegenseitig beeinflussen und damit funktionell ungleich sind. So ist das Imprinting eine elternspezifische Regulationsform der Genexpression. Andererseits haben Forscher herausgefunden, daß nur die normale Mischung der Genome von Vater und Mutter eine normale Entwicklung gewährleisten, folglich diese Prägung voraussetzen.

Das bekannteste Beispiel findet sich in den Körperzellen der Frau. Nach der Befruchtung der Eizelle und den ersten Teilungen in der Embryonalphase „entscheiden“ sich die Zellen eines weiblichen Embryos (besitzt zwei X-Chromosomen, Genotyp XX), eines der beiden X-Chromosomen stillzulegen. Das Chromosom wird zu einem Paket verschnürt und mit einer Schicht von Molekülen überzogen, die den Zugriff bei der Ablesung des genetischen Kodes behindern. Das Besondere: Bei allen weiteren Tochterzellen bleibt diese Kopie des X-Chromosoms „abgeschaltet“ – so, als wäre sie nicht vorhanden.

Das Phänomen der epigenetischen Prägung ist aber nicht auf die Geschlechtschromosomen beschränkt. So können die Zellen eines Kindes unterscheiden, welches der beiden Exemplare dieser Gene sie vom Vater und welches sie von der Mutter geerbt haben. Die Zellen nehmen nur eines der beiden in Betrieb, das andere, durch einen Elternteil „geprägte“ Gen, bleibt ungenutzt. Dieser Vorgang entscheidet offensichtlich auch über die Ausprägung eines Krankheitsgens (vgl. Abschnitt„Erbkrankheiten“ ).

Die Beeinflussung der Gene bei der epigenetischen Prägung erfolgt wahrscheinlich durch enzymatische Methylierung , also durch das Anhängen von winzigen Methylgruppen an einige Cytosinbausteine der DNS. Dies betrifft meist nur eine begrenzte Anzahl von Genen. Die Prägung hält nur eine Generation und wird bei der Bildung neuer Keimzellen gelöscht, also nicht auf die Nachkommen vererbt(!). Mehr als 40 solcher genetisch prägbarer Gene sind beim Menschen bisher bekannt. Man schätzt aber die Gesamtzahl auf 100 bis 200. Mit den weiter unten beschriebenen Gen-Chips lassen sich diese Methylierungsmuster tatsächlich nachweisen (vgl. Epigenomprojekt).

Die individuelle epigenetische Prägung beeinflußt Entwicklung, Wachstum und Verhalten eines Lebewesens. Prägungsfehler können zu einem vollständigen Funktionsverlust geprägter Gene und dadurch zu charakteristischen Krankheitsbildern führen. Diese epigenetischen Veränderungen steuern die Krebsentstehung, verursachen Probleme in der Stammzelltherapie sowie beim Klonen und beeinflussen, wie erwähnt, welche Eigenschaften vom Vater und welche von der Mutter zur Ausprägung kommen.

Im Anschluß an dieses aufregende Thema sollen noch zwei weitere epigenetische Regulationsmechanismen Berücksichtigung finden, die einen modifizierenden Einfluß auf die Transkription ausüben: die sogenannte RNS-Interferenz und der Einfluss von Histonen.

RNS-Interferenz. Kürzlich ist es nach umfangreichen Vorexperimenten an Fruchtfliegen, Würmern, Pilzen und Pflanzen gelungen, spezifisch einzelne Gene in Humanzellen funktionell abzuschalten, ohne manipulative Eingriffe an der DNS vorzunehmen. Die Methode greift nicht auf der Ebene der DNS in das Erbgut ein, wie bei den herkömmlichen Knock-out-Experimenten, bei denen man ausgewählte Gene zerstört und dann schaut, welche Funktionen ausgeschaltet wurden. Sie beruht vielmehr auf einem Eingriff auf der Ebene der ersten Stufe der Übersetzung der Erbinformation in Eiweiße , nämlich auf der Ebene der Synthese der Boten-RNS (mRNS). Für die Aufklärung des Mechanismus‘ der RNS-Interferenz erhielten die beiden US-Wissenschaftler Andrew Z. Fire und Craig C. Mello den Nobelpreis für Medizin 2006.

Führt man künstlich synthetisierte kurze doppelsträngige RNS-Moleküle (dsRNS) mit einer Kettenlänge von 21 bis 23 Nukleotiden mit bekannter Nukleotidsequenz in einen Organismus ein, so sind diese Moleküle in der Lage, den weiteren Übersetzungsweg bis zum fertigen Eiweiß zu blockieren – die RNS-Interferenz. Durch Basenpaarung erkennt die Doppelstrang-RNS die homologe mRNS (Schlüssel-Schloss-Prinzip) und lagert sich an diese an. Zusammen mit Enzymen (Nukleasen), die Nukleinsäuren abbauen können, bildet sie einen sogenannten Silencing-Komplex. Dieser Komplex bewirkt dann das Herausschneiden des mit der dsRNS markierten Bereiches aus der mRNS, der dann nicht mehr zur Kodierung der Proteinsynthese benutzt werden kann. Dieser Vorgang wird Doppelstrang-RNS-Interferenz genannt. Allerdings kennt man noch nicht alle Mechanismen dieses Abschaltprozesses.

Sie ahnen schon, welch praktische Bedeutung diese Entdeckung haben könnte. In der Tat ist es heute einfach, solch kurze RNS-Moleküle mit bekannter Basensequenz zu synthetisieren. Der Entdecker des Phänomens der RNS-Interferenz, Thomas Tuschl, hat folgende Vision für die funktionelle Genomanalyse: „Um die Funktionen der 30.000 Gene des menschlichen Genoms herauszufinden, müsste man also, da die Nukleotidsequenz des menschlichen Genoms bekannt ist, „nur“ 30.000 Doppelstrang-RNS-Stücke synthetisieren und so der Reihe nach einzelne Gene (mittels RNS-Interferenz d.A.) ausschalten und herausfinden, was dadurch fehlentwickelt oder gestört wird“ … „Das wird nicht ganz einfach und schnell gehen. Aber es gibt dabei kein grundsätzliches Problem“.

Bei dem beschriebenen Verfahren handelt es sich nicht nur um einen sehr nützlichen Labortrick. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse weisen darauf hin, dass fast ein Drittel aller Gene des Menschen von solchen „natürlichen“ kleinen RNS-Molekülen (microRNS) mitgesteuert werden.

Histone. Kommen wir zum Abschluß des Themas zu den Histonen. Es handelt sich dabei um anfärbbare basische Zellkernproteine, deren Struktur die Organisation des langen DNS-Fadens bewirken. Im Lichtmikroskop ist der im Zellkern normalerweise eng gepackte DNS-Faden nicht im Detail zu erkennen. Erst zum Zeitpunkt der Zellteilung erscheint er uns, wie bereits erwähnt, in der organisierten Form der Chromosomen. Die Histone bestehen aus kleinen Untereinheiten (Nukleosomen) zu je acht Proteinmolekülen, um die jeweils zwei Windungen der DNS-Helix geschlungen sind. Ort und Art der chemischen Modifikation ( Methylierung, Acetylierung usw.) der Nukleosomen bestimmt die Dichte der Packung des DNS-Knäuels und diese wiederum die Ablesbarkeit des genetischen Kodes. Auf diese Weise wird das Arsenal regulativer Einflußnahme auf den genetischen „Basiskode“ enorm erhöht und die Vielfalt der molekularen Expressionsmuster erweitert.

Fazit: Die Epigenetik befaßt sich mit Strukturen, die das Verhalten der genetischen Basisstrukturen der DNS nachhaltig prägen (genetic imprinting). So versteht man z.B. unter der epigenetischen Prägung die gegenseitige Beeinflussung der Chromosomen eines Chromosomenpaares, wobei bestimmte Gene eines Chromosoms durch das andere (homologe) Chromosom ausgeschaltet werden. Diese Prägung scheint eine notwendige Voraussetzung für eine normale Embryonalentwicklung und die Entscheidung darüber zu sein, welche Eigenschaften von Vater bzw. Mutter zur Ausprägung kommen. Andererseits können Fehlprägungen zu Fehlbildungen, Krebs oder Tod führen. Die Prägung wird bei der Entstehung der Keimzellen wieder gelöscht und nicht auf die Nachkommen übertragen.