Der menschliche Organismus trägt umfangreiche genetische Informationen mit sich herum, die im Verlaufe des Individuallebens offensichtlich niemals zur Expression von Molekülen führen. Der größte Teil davon stammt von unseren Vorfahren in der Entwicklungsgeschichte und ist „stummgeschaltet“. Einige Nukleotidsequenzen sind eindeutig dem Genom bekannter Viren zuzuordnen, andere wiederum wurden im Verlaufe der Entwicklungsgeschichte durch Mutationen so stark verändert, daß eine sichere Zuordnung zu bestimmten Viren nicht mehr möglich ist. Das Prinzip der „Hitchhiker“ (Trittbrettfahrer) ist offensichtlich schon sehr alt und bereits für den Einbau von DNS aus Bakteriophagen (das sind Viren, die Bakterien als Wirt nutzen) in das Bakteriengenom vor vielen Millionen Jahren nachgewiesen worden. Es wird angenommen, daß vor 30 bis 70 Millionen Jahren diese Viren unsere Vorfahren (Menschenaffen) als Wirt benutzt haben, in der gleichen Weise, wie es auch heute alle Viren tun, da sie zu ihrer Vermehrung den Reproduktionsmechanismus lebender Zellen benötigen. Einigen ist es offensichtlich gelungen, Teile ihres Genoms in das Genom des Wirtes einzubauen und damit das genetische Repertoire mit den entsprechenden Konsequenzen auf molekularer Eiweißebene zu erweitern. Gelangen solcherart veränderte Genome in die Keimzellen, ist ihre Verbreitung unabhängig vom einzelnen infizierten Individuum auf Dauer gesichert.
Ein gegenwärtig intensiv untersuchter Kandidat für die Erforschung des Einbaus von Virus-Nukleotidsequenzen in das Humangenom ist die Gruppe der Retroviren. Dabei handelt es sich um RNS-Viren (die meisten bekannten Viren sind dagegen DNS-Viren), zu deren Familienmitgliedern auch das Human Immunodifficiency Virus (HIV) zählt. Schätzungen zufolge sind etwa 8% des menschlichen Genoms viralen und allein zwischen 0,6% und 1% speziell retroviralen Ursprungs.
Das humane Genom dient den Viren unter anderem als „Schlafplatz“ bis zum Ausbruch einer Erkrankung. Wir kennen diesen Mechanismus im Zusammenhang mit der Immunschwächekrankheit AIDS. Zwischen dem Nachweis von Antikörpern („HIV-positiv“) gegen bestimmte Hüllproteine des HI-Virus, der ein untrügliches Zeichen für die korrekte Fremderkennung darstellt und dem Ausbruch des Vollbildes der Erkrankung vergehen in der Regel viele Jahre. Ein weiteres Beispiel für das „Zwischenparken“ eines Virusgenoms sind Infektionen mit bestimmten Herpes-Viren, deren scheinbar überraschender Ausbruch der Erkrankung durch verschiedene Streßfaktoren bedingt ist.
Für unser Thema ist allerdings eine andere Eigenschaft von hervorragender Bedeutung. Retroviren haben in der Entwicklungsgeschichte wichtige Spuren hinterlassen, indem sie quer über das Humangenom Bruchstücke des Virusgenoms verteilt haben, die heute nichts mehr mit Krankheit zu tun haben, sondern – sofern sie exprimiert werden – eher durch ihre regulierenden Einflüsse zu „normalen“ physiologischen Vorgängen beitragen und auf die molekulare Vielfalt Einfluß nehmen. Darüberhinaus scheinen solche ehemaligen viralen Gene und die daraus abgeleiteten Virushüllproteine für das Zusammenwachsen der Trophoblasten der Plazenta benötigt zu werden. Die daraus entstehende Zellschicht dient dann dazu, den Fötus vor Virusangriffen und dem Immunsystem der Mutter zu schützen.
Ein augenfälliges Beispiel soll die regulierende Funktion solcher „Virusreste“ erläutern: Die meisten Säugetiere als auch der Mensch produzieren in der Bauchspeicheldrüse das Enzym Amylase, das in den Dünndarm abgegeben wird und die Aufgabe hat, Stärke in kleine Glukosemoleküle abzubauen, die dann durch den Darm aufgenommen werden können. Der Mensch aber verfügt darüberhinaus über die zusätzliche Fähigkeit, Amylase auch in den Speicheldrüsen der Mundschleimhaut zu produzieren (Brot wird süß, wenn man es lange kaut). Es wird vermutet, daß die Menschenaffen vor Jahrmillionen diese Eigenschaften erworben haben, nachdem Bruchstücke eines Retrovirusgenoms genau vor drei Genen eingebaut wurden, die die Synthese der Amylase im Milieu der Mundhöhle steuern. Dieser Vorgang hat sich offensichtlich – wie wir heute sehen – als Selektionsvorteil erwiesen. So ist die Vergangenheit immer gegenwärtig.
Wir lernen aus diesem Beispiel, daß es prinzipiell möglich sein müßte, dieses Prinzip für die klinische Praxis nutzbar zu machen. So hat es nicht an klinischen Versuchen gemangelt, bei bestimmten genetisch bedingten Erkrankungen mit sogenannten Vektoren (Genfähren) gezielt Genmaterial in das Humangenom einzuschleusen.
Aufgrund ihrer hohen Effektivität wurden für die Gentherapie ungefährliche Retrovirenstämme als Träger benutzt, nachdem ihnen entscheidende Gene für ihre weitere Vermehrung entfernt und das „therapeutische Gen“ in die Virus-RNS eingefügt wurde. Nach Umschreiben der Virus-RNS in Virus-DNS konnte die Therapie beginnen. Aus dem Blut des Patienten wurden Zellen gewonnen, die dann mit dem modifizierten Virus infiziert und nach einer bestimmten Inkubationszeit in den Körper zurückgegeben wurden. Ist dann die DNS in den Zellkern der Zielzelle integriert, beginnt die Synthese des therapeutischen Proteins. Die meisten bisherigen Studien zur Gentherapie sind allerdings mit Krebspatienten gemacht worden. Von den mehreren hundert Gentherapiestudien, die bei den US-Behörden gemeldet worden sind, sind es fast 70 Prozent, in denen Krebspatienten mit dieser Therapieform behandelt wurden.
Doch jetzt kommt das große Aber: der Eingriff entzieht sich in der Regel der Kontrolle des betreuenden Wissenschaftlers, d.h. es kann nicht exakt vorherbestimmt werden, an welcher Stelle des Genoms des Menschen der Vektor eingebaut wird. Im ungünstigsten Fall können „Krebsgene“ durch das Einfügen der modifizierten Virus-DNS aktiviert oder die genetische Regulation und Steuerung bestimmter Stoffwechselprozesse ungünstig beeinflußt werden. Dies hat bereits in einigen Fällen dazu geführt, daß größere Studien abgebrochen werden mußten. Neuere Untersuchungen haben aber bereits Wege aufgezeigt, wie man den Einbau der Genfähren gezielter verfolgen kann.
Nicht nur Bruchteile von Virusgenomen beherbergt unser Organismus, auch große Teile von Bakteriengenomen und ihre Genprodukte sind uns aus grauer Vorzeit überkommen. Gemeint sind die bereits erwähnten Mitochondrien, die einstmals aus der sehr engen Symbiose zwischen Bakterien und kernhaltigen Wirtszellen entstanden sind und deren Genprodukte heute eine hervorragende Rolle im Gesamtstoffwechsel spielen.
Darmabschnitt | Bakteriendichte | Häufige Arten |
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Magen | 105/g | Flora der Mundhöhle, Laktobakterien, grampositive Kokken |
Duodenum | 103/g | wie Magen |
Jejunum | 105/g | Laktobakterien, Streptokokken, wenige Anaerobier |
Ileum | 108-109/g | grampositive Kokken, Enterobacteriaceae, Bacteroides spp., andere Aerobier |
Kolon | 1011-1012/g | Bacteroides spp., Clostridium spp., Bifidobakterien, Eubakterien, Fusobakterien, Enterobacteriaceae, Lactobacillus, Enterokokken, Staphylokokken` |
Auch heute leben wir in trauter Eintracht mit Myriaden von Bakterien der verschiedensten Art. Sie besiedeln unsere Schleimhäute (400 m2; Darm 200-300 m2) und tragen durch ihre Stoffwechselprodukte zur molekularen Vielfalt bei. Um welche Größenordnung es sich dabei handelt, zeigt beispielhaft Tab. 23 für die Verhältnisse in unserem Verdauungstrakt. Allein die Mundhöhle beherbergt bis zu 200 verschiedene Bakterienarten. Im Dickdarm konnten bis zu 400 Arten bestimmt werden, wobei jeder Darmabschnitt durch die Zusammensetzung mit bestimmten Bakterienarten charakterisiert ist. Vergleicht man die Zahl aller Keime der mit Schleimhäuten ausgekleideten Hohlräume des Körpers mit der Zahl der Körperzellen eines Erwachsenen, so kommt man auf einen erstaunlichen Faktor von 10 bis 100. Dies bedeutet das Zehn- bis Hundertfache an Mikroorganismen im Vergleich zur Zahl der gesamten Körperzellen eines Individuums.
Die Gesamtheit der Darmbakterien bildet zusammen mit wenigen Pilzarten ein kritisches ökologisches Gleichgewicht, das hauptsächlich durch die beteiligten Bakterienarten und die Zusammensetzung der Speisereste bestimmt ist.
Große Bedeutung kommt der Tatsache zu, daß die unmittelbare Oberfläche der Darmschleimhaut (Epithelzellen) eng mit einer Schicht von Bakterien belegt ist. Letztere „stecken“ zum Teil sogar in diesen Zellen, ohne jedoch von ihnen aufgenommen zu werden Molekular wird dieses Verhalten über Adhäsionsmoleküle realisiert, die wir bereits im Zusammenhang mit dem Thema Homing kennengelernt haben.
Worin besteht nun der gegenseitige Nutzen dieser Symbiose? Wie zu erwarten, profitieren die Bakterien natürlich von den im Überfluß vorhandenen Nährstoffen ihrer unmittelbaren Umgebung. Zur Aufrechterhaltung ihres lokalen Milieus produzieren sie u.a. Bakterizide, sozusagen Antibiotika, um zusätzliche (schädliche) Keime die von Außen durch die Nahrung in den Darm gelangen, zu inaktivieren oder abzutöten (Kolonisierungsresistenz).
Darüberhinaus sind die Darmbakterien Produktionsstätte einiger Stoffe, die essentiell für den Stoffwechsel des Menschen sind. So wird in der Darmflora eine Reihe von Vitaminen gebildet: Vitamin K2 , Vitamin H, Vitamin B1, Vitamin B2, Vitamin B6, Vitamin B12. Sie sind hauptsächlich als essentielle Coenzyme an den meisten wichtigen Stoffwechselprozessen beteiligt. Die im Dickdarm gebildeten Vitamine leisten allerdings keinen großen Beitrag zur Versorgung, da in den unteren Darmabschnitten keine nennenswert hohe Stoffaufnahme aus dem Darm mehr erfolgt. Der enge Kontakt zwischen Bakterien und dem Darmepithel sowie den unmittelbar darunter liegenden Blutkapillaren garantiert jedoch eine optimale Aufnahme der in den Darmbakterien gebildeten Stoffe. Und was viele nicht wissen: Fast ein Viertel aller Immunzellen (Lymphozyten) befindet sich in kleinen Ansammlungen (Peyerschen Plaques) an gleicher Stelle in der Darmwand und wird durch die ständige Auseinandersetzung mit den Bakterien „trainiert“.
Das Human Microbiome Project. Im Jahre 2007 wurde durch eine Arbeitsgruppe des US-amerikanischen National Institut of Health (NIH) ein Projekt ins Leben gerufen mit dem Ziel, das unmittelbare mikrobielle Umfeld im Körper bzw. an der Körperoberfläche – das Mikrobiom – des Menschen zu erforschen. Das Human Microbiome Project (HMP) widmet sich der umfassenden Charakterisierung der symbiotisch bzw. parasitisch lebenden Mikrorganismen im Mund- und Rachenraum, des Verdauungstrakts, der Haut und des Urogenitaltrakts und deren Bedeutung für Gesundheit und Krankheit des Menschen.
Wenn man bedenkt, daß die Anzahl der Mikroorganismen die Zahl der Körperzellen um mehr als das Zehn- bis Hundertfache übersteigt, wird das Ausmaß und die Bedeutung solcher Untersuchungen deutlich. Bisher konnten nur wenige anzüchtbare Mikroorganismen näher charakterisiert werden. Durch die Anwendung moderner molekularbiologischer Techniken wie der DNS-Sequenzierung und den Nachweis spezifischer Genexpressionsmuster ist es zum Beispiel möglich geworden, gleichzeitig ganze mikrobielle Gemeinschaften und ihre Wechselwirkung mit ihren natürlichen Wirtsgeweben zu untersuchen.
Die gewonnenen Erkenntnisse werden zur Klärung folgender Fragen beitragen: Gibt es Mikrobenstämme, die bei allen Menschen gemeinsam an gleichen Wirtsorten auftreten? Welche Wechselwirkungen gibt es zwischen dem Mikrobiom und den lokalen Bedingungen des Wirtsorgansmus? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Veränderungen der Mikrobiome und dem Auftreten von Krankheiten?
Fazit: Unser Genom ist voller Nukleotidsequenzen, die im Verlaufe der Entwicklungsgeschichte von Genomen verschiedener Mikroganismen übernommen wurden und zum Teil noch intakt aber „stummgeschaltet“ sind. Manche dieser erworbenen Sequenzen tragen heute zur Steuerung der Genaktivität und zu normalen physiologischen Funktionen bei. Ohne die Mitochondrien, die sich aus ehemaligen Bakterien ableiten, wäre unser Leben undenkbar. Auch heute leben wir in symbiotischer Eintracht mit Myriaden von Darmbakterien, die an der Verdauung und dem „Training“ der darmständigen Immunzellen beteiligt sind.