Beeindruckt müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß unser Organismus mehr oder weniger schnellen molekularen Veränderungen unterliegt. Das betrifft nicht nur die Stoffwechselprozesse selbst, sondern augenscheinlich auch die Zellen, Gewebe und Organe. Im Erwachsenenalter muß unser Körper täglich etwa zehn Milliarden verbrauchte, funktionsunfähige oder beschädigte Zellen beiseite schaffen. Ohne programmierten Zelltod hätte sonst ein 80-Jähriger rund zwei Tonnen Knochenmark und eine Darmlänge von 16 Kilometern. Es überrascht, daß die Gesamtheit der Zellmembranen fast aller Zellen eines erwachsenen Organismus‘ innerhalb von 20-30 Tagen völlig erneuert werden. Und das ohne Betriebsunterbrechung.
Gewebe/Organ | Lebensdauer (Durchschnitt) |
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Dünndarm (Epithel) | 1,4 Tage |
Magenausgang (Epithel) | 1,8 Tage |
Enddarm (Epithel) | 6,2 Tage |
Hautepidermis | 19,2 Tage |
Harnblase (Epithel) | 66,5 Tage |
Rote Blutkörperchen | 120 Tage |
Leber (Drüsenepithel) | 222 Tage |
Lymphozyten | 5 Tage bis Jahre |
Knochenzellen | 25-30 Jahre |
Eizellen (Oozyten) | keine Erneuerung |
Nervenzellen | keine Erneuerung |
Schweißdrüsenzellen | keine Erneuerung |
In Tab. 16 findet sich eine kleine Auswahl von Informationen über die „Haltbarkeitsdauer“ einiger Zelltypen und Gewebe, die dem empfehlenswerten Tabellenbuchvon Kunsch und Kunsch entnommen sind. Natürlich gibt es einige wenige Ausnahmen wie die Nervenzellen oder die Eizellen, die, einmal angelegt, während des Individuallebens nicht vermehrt werden. Gleiches gilt jedoch nicht für die männlichen Samenzellen, die zeitlebens in großen Mengen produziert werden. Am oberen Ende der Haltbarkeitsskala finden wir solche Zelltypen wie die Knochenzellen oder langlebige Immunzellen (Lymphozyten), die für das immunologische Gedächtnis – von dem später noch die Rede sein wird – von Bedeutung sind. Hohe Erneuerungsraten von ein bis zwei Tagen weisen dagegen einige Zelltypen des Magen-Darm-Trakts auf. Letztere bilden dann nach ihrem Absterben ein Drittel der Masse des mit dem Stuhl ausgeschiedenen fäkalen Materials. In der Summe ist nach 3-4 Jahren mit den oben genannten Einschränkungen fast der gesamte Zellvorrat eines Menschen erneuert!! Ein – zumindest molekular – erneuerter Mensch also.
Und noch eine Zahl zum Staunen: In jeder Sekunde sterben in einem Menschen etwa 50 Millionen Zellen. Gleichzeitig erblickt die gleiche Anzahl von neuen Zellen das Licht der Welt. Wir stoßen hier auf die Frage nach den Mechanismen und den molekularen Zusammenhängen der Aufrechterhaltung der Integrität (und Individualität) des Organismus‘, des individuellen Alterns und des Zelltods.
Die Tatsache, daß es durch gentechnische Eingriffe möglich ist, Würmer mehr als doppelt so alt werden zu lassen wie es von der Natur vorgesehen ist, zeugt davon, daß es einen Mechanismus geben muß, der das Individualleben zeitlich beschränkt. Dies legt die Vermutung der Existenz von „Altersgenen“ nahe. Wie diese Zeitspanne von den Genen geregelt wird, ist nicht genau bekannt.
Eine bemerkenswerte Entdeckung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Telomeren – das sind Abschnitte mit der sich z.B. beim Menschen wiederholenden Nukleotidsequenz TTAGGG an den Enden der Chromosomen mit wichtigen Startpunkten für die Verdoppelung der DNS – nach jeder Zellteilung sichtbar kürzer werden und nach etwa 50 Zellteilungen nicht mehr nachgewiesen werden können. Chromosomen verlieren jedes Mal bei der Zellteilung ca. 50 Nukleotide. So stellt die Telomerenlänge ein Maß für Lebenslänge einer Zelle dar. Nur Geschlechtszellen, Tumorzellen und wenige Körperzellen bilden eine Ausnahme: sie besitzen das Enzym Telomerase , das in der Lage ist, den Nukleotidverlust auszugleichen und neu zu synthetisieren.
Es gibt Spekulationen , durch künstliche Verlängerung der Telomeren die Lebensspanne des Menschen wesentlich zu verlängern. So hält der Berater von Tony Blair in Fragen der Gentechnik, John Harris, langfristig eine Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung des Menschen auf ein biblisches Alter von 1200 Jahren für erreichbar. Ein kleiner Schönheitsfehler: Ein Überschuß an Telomerase scheint die bösartige Entartung der Zellen zu fördern.
Zu den heißen entwicklungsbiologischen Gegenwartsthemen zählt die Untersuchung des programmierten Zelltods (Apoptose). Letztere stellt einen Spezialfall der programmierten Zelldifferenzierung dar. So bildet die Apoptose den Rückwärtsgang und Abschluss in der Kaskade der Aufeinanderfolge von An- und Abschaltungen bestimmter Genmuster. Heute gibt es überzeugende Beweise dafür, daß die für diesen Prozeß erforderlichen Faktoren bei mehreren Organismenarten vorhanden und auch ähnlich sind, was wiederum davon zeugt, daß dieses Phänomen molekular als auch hinsichtlich seiner Wirkungsweise während der Evolution konserviert wurde.
Für die Aufklärung der Zusammenhänge über den programmierten Zelltod haben Sydney Brenner, Robert Horvitz und John Sulston den Nobelpreis für Medizin und Physiologie 2002 erhalten. Als „Versuchstier“ diente ihnen der winzige (1 mm) Fadenwurm Caenorhabditis elegans, von dem sie in Erfahrung brachten, daß bei Wurm und Mensch die gleichen Signalwege zum programmierten Zelltod führen. Für die angewandte medizinische Forschung sind die gewonnenen Erkenntnise von allergrößter Bedeutung, handelt es sich doch möglicherweise um eines der Schlüsselmechanismen für das ungehemmte Wachstum von Krebszellen oder im umgekehrten Falle einiger bekannter Nervenleiden wie Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson um solche Erkrankungen, bei denen zu viele Zellen frühzeitig absterben.
Eine Zelle beginnt mit dem Apoptose-Programm, wenn interne oder externe Signale die Sebstzerstörung befehlen. Jede Zelle unseres Körpers befindet sich durch chemische Botenstoffe im ständigen Kontakt zu ihren Nachbarzellen, die an die Rezeptoren der Zelle binden. Wird ihr dieser Kontakt entzogen, so führt dies in der Regel zur Auslösung von Apoptose. Das ist ein Grund, warum normale Zellen kaum in vitro kultivierbar sind, d.h. vereinzelt in der Zellkultur gezüchtet werden können. Die meisten Zellkulturen basieren daher auf entarteten Zellen, bei denen ein defektes Apoptoseprogramm ein unbegrenztes (tumoröses) Wachstum ermöglicht.
Zu den internen und externen Signalen, die eine Apoptose auslösen können, gehören z.B. die Zerstörung der Mitochondrienmembran oder die Besetzung von Rezeptoren mit bestimmten todbringenden Botenstoffen oder toxischen Substanzen. Hohe Dosen von UV- oder Röntgenstrahlung können ebenso zu einer Schädigung des genetischen Materials in der Zelle führen. Diese Zellen haben dann die Wahl zwischen einer Reparatur kleinerer DNS-Schäden oder der Apoptose, wenn der Schaden nicht mehr repariert werden kann. Die Zelle tötet sich im Zweifelsfall selbst, um nicht zu entarten.
Die Moleküle, die die Apoptose vorantreiben, heißen Caspasen und gehören zu den intrazellulären Proteasen (eiweißspaltende Enzyme). Die die Apoptose auslösenden Prozesse leiten eine Kaskade von Reaktionen ein, die letztendlich zur programmierten Auflösung der Zelle führen, woran die meisten der bisher bekannten 14 Caspasen beteiligt sind. Hier liegt der pharmakologische Ansatzpunkt für die Hemmung oder Stimulierung ihrer Funktion.
Ein interessantes Beispiel aus der Natur zeigt deutlich, wie durch geeignete Maßnahmen Apoptose verhindert werden kann: Viren bestehen hauptsächlich aus Nukleinsäuren, können sich aber nicht selbst vermehren. Sie besitzen zwar den genetischen Bauplan für ihre Nachkommen, benötigen aber lebende Wirtszellen, um die Vermehrung ihrer Nukleinsäuren und die Produktion ihrer Hüllproteine zu bewerkstelligen. Die infizierte Zelle „erkennt“ das fremde genetische Material (Virus) und leitet normalerweise „aus Sicherheitsgründen“ den Apoptoseprozeß ein, um nicht zu „entarten“. Das Virus verhindert jedoch die Apoptose – also den Untergang der Zelle, ihrem Lebensspender – solange, bis die Vermehrung des Virus erfolgreich beendet ist.
Abschließend sei angemerkt, daß die Caspasen nicht nur am programmierten Zelltod führend beteiligt sind, sondern auch im Zusammenhang mit der normalen Zellteilung und Zelldifferenzierung im Orchester der vielen daran beteiligt biochemischen Reaktionen mitspielen. Also auf das Milieu kommt es wieder an.
Fazit: Der programmierte Zelltod (Apoptose) ist ein natürlicher Schutzmechanismus, um die unkontrollierte Zellvermehrung zu verhindern oder im Fall gestörter Reparaturmechanismen die Selbstzerstörung der Zelle auszulösen.