Es gibt schwere Erkrankungen, bei denen das Immunsystem gegen Strukturen des eigenen Körpers gerichtet ist und die so den martialischen Namen Autoaggression rechtfertigen. Daneben finden wir aber gar nicht so selten Immuneffektoren, insbesondere Antikörper, die zumindest im Gewebeschnitt oder im Reagenzglas mit Strukturen verschiedener körpereigener Gewebe und Moküle reagieren, ohne daß offensichtliche gesundheitliche Beschwerden in Erscheinung treten. Eine freundlicher klingende, übergreifende Überschrift wäre in diesem Falle vielleicht „Autoimmunität“ oder „Autoreaktivität“.
Die Liste der Autoimmunerkrankungen ist lang und betrifft fast alle Fachgebiete der Medizin. Sie reicht von eindeutig organspezifischen Erkrankungen wie dem Hashimotosyndrom der Schilddrüse bis zu Erkrankungen wie dem Systemischen Lupus erythematodes (LE), bei dem viele Körperorgane von autozytotoxischen Antikörpern attackiert werden.
Autoimmunität entsteht durch Umgehung der Kontrolle der Autoreaktivität. Offensichtlicht handelt es sich hierbei also um einen deutlichen Hinweis darauf, daß das Repertoire der Erkennungsrezeptoren für „Selbst“ während der Embryonalentwicklung nicht eliminiert wird, sondern daß durch eine mehr oder weniger spezifische Hemmung dieser Erkennungszellen – wie wir weiter oben gesehen haben – nur funktionell unterdrückt werden. So nimmt eine Theorie an, daß es sich bei der Immunreaktivität gegen Selbst nur um eine „Hemmung der Hemmung“ oder Aufhebung der Hemmung der Reaktivität gegen Selbst handelt. Klingt einleuchtend. In der Realität handelt es sich allerdings um ein schwer faßbares Geflecht von zellulären und molekularen Wechselwirkungen. Hinzu kommt, daß bei den Autoimmunkrankheiten familiäre Häufungen beobachtet werden. Für eine Beteiligung genetischer Faktoren spricht daher die Assoziation verschiedener Autoimmunerkrankungen mit bestimmten allelen Typen des HLA-Systems.
Ein zweiter Ursachenkomplex für die Autoreaktivität besteht darin, daß molekulare Strukturen, gegen die keine Selbsttoleranz entwickelt wurde, weil die Immunzellen normalerweise mit diesen Molekülen nicht in Berührung kommen, aber nach Verletzungen, Infektionen, Entzündungen, Herzinfarkt diese bei der Gewebezerstörung freigesetzten Strukturen erkennen können und mit der Bildung von Antikörpern oder zytotoxischen Immunzellen reagieren. Besonders heimtückisch sind solche Autoimmunerkrankungen, die dadurch zustande kommen, daß nach bakteriellen Entzündungen Antikörper gegen die Bakterien gebildet werden, die aufgrund struktureller Gemeinsamkeiten bestimmter Moleküle von Mensch und Bakterium mit dem gesunden Gewebe des Menschen reagieren (Kreuzreaktion).
In der praktischen Labordiagnostik werden zum Nachweis der Autoreaktivität meist die Seren, in denen Antikörper gegen Selbst vermutet werden, auf Schnitte von Organgewebe aufgetragen. Nach Inkubation und Abspülen der Serumprobe können die an das Gewebe gebundenen Antikörper durch Überschichtung mit fluoreszenzmarkierten Anti-Immunglobulinen (Anti-Antikörper) durch Betrachtung unter dem Fluoreszenzmikroskop nachgewiesen werden (vgl. Abb. 43 im Abschnitt „Antigene und Antikörper“). Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß es sich dabei um ein mehr oder weniger artifizielles Testsystem handelt, bei dem durch den Aufbereitungsprozeß die Gewebezellen aufgeschlossen werden und Strukturen erst dadurch mit den Antikörpern reagieren können, was im natürlichen Zellverband nicht möglich wäre.
Das Spektrum nachgewiesener Autoreaktivität ist sehr breit. Unterschieden werden organspezifische Reaktionen von nichtorganspezifischen Reaktionen. Es reicht von Antikörpern gegen bestimmte Immunglobuline (sog. Rheumafaktoren) über mehr oder weniger gut untersuchte organspezifische Erkrankungen wie Perniziöse Anämie und Thyrioiditis (Schilddrüse) bis zu schwersten generalisierten Krankheitsbildern wie dem Lupus erythematodes (LE), bei dem eine Vielzahl von Organen in Mitleidenschaft gezogen ist.
Und das Überraschende ist wie schon oben erwähnt: Autoantikörper können auch bei klinisch Gesunden nachgewiesen werden. Abb. 51 demonstriert, daß in der „Normalbevölkerung“ mit zunehmendem Lebensalter die Häufigkeit von Probanden mit Autoantikörper zunimmt, hier exemplarisch für Autoantikörper gegen Strukturen des Zellkerns bzw. gegen Schilddrüsengewebe dargestellt.
Fazit: Obwohl das reife Immunsystem durch einen spezifischen Hemm-Mechanismus die Reaktion gegen Selbst nicht zuläßt, kann es durch den Wegfall dieser Selbsthemmung zur Reaktion gegen körpereigene Moleküle kommen. Das Spektrum der Autoimmunerkrankungen ist breit gefächert. Es reicht von organspezifischen Erkrankungen (z.B. Schilddrüse) bis zu Erkrankungen, die den gesamten Körper erfassen. Erstaunlich ist das Auftreten von Antikörpern gegen verschiedene Zellstrukturen, die offensichtlich auch bei klinisch Gesunden zu finden sind.