Unser Körper ist glücklicherweise in der Lage, die meisten molekularen Fehlproduktionen und -reaktionen durch entsprechende Reparaturmechanismen zu kompensieren. Das trifft sowohl auf die Ebene der Reproduktion genetischer Informationen als auch auf die Ebene der Umsetzung genetischen Kodes in Eiweißstrukturen zu. Letztlich beruhen all unsere Körperfunktionen aus kontrollierten und regulierten molekularen Reaktionen, die die Funktion und Integrität des Individuums garantieren.
Im Zusammenhang mit der Besprechung des programmierten Zelltods (Apoptose) haben wir bereits erfahren, daß unser Organismus ein Standardprogramm bereit hält, um entartete Zellen planmäßig zu eliminieren. Trotzdem wird dieser Prozeß immer wieder unterlaufen, und die außer Kontrolle geratenen Zellen können sich ungehindert teilen und parasitär die Kontrolle über einzelne Körperfunktionen erlangen oder sich über den Körper verstreuen (Metastasen) und sich zentraler Funktionen bemächtigen.
Es gibt nur wenige Tests zum direkten Nachweis eines benignen (gutartigen) oder malignen (bösartigen) Tumorwachstums, die sich als Routineverfahren eignen. Das liegt daran, daß die als tumorassoziiert geltenden Moleküle in den meisten Fällen auch bei klinisch Gesunden auftreten, jedoch bei Tumorkranken in erhöhter Konzentration anzutreffen sind. Als Beispiel kann hier das prostataspezifische Protein (PSA) genannt werden, dessen erhöhter Serumspiegel statistisch mit der Ausbildung eines Prostatakarzinoms assoziiert ist. Er ist allenfalls ein wichtiges Achtungszeichen für den Urologen, kann aber die anderen diagnostischen Standardverfahren nicht ersetzen.
Ähnlich verhält es sich bei der Leukämiediagnostik, wo nicht bestimmte „Krebsmarker“ auf ein ungehemmtes Zellwachstum hinweisen, sondern die stark erhöhte Konzentration an weißen Blutzellen einer bestimmten Reifungsstufe mit entsprechenden Differenzierungsmarkern das ungehemmte Wachtum dieser (meist unreifen) Zellen anzeigen. (Abb. 50). Diese Differenzierungsmarker sind keine speziellen Tumormarker, da sie auf „normalen“ Zellen im Verlauf der Reifung von der Stammzelle zur ausdifferenzierten Zelle als Reifungsmarker immer vorhanden sind. Ihre abweichende quantitative Ausprägung gehört allerdings zu den wichtigen Informationen für den behandelnden Spezialisten. Sie entscheiden wesentlich über Behandlungsmethode und -prognose. Ein weiteres Beispiel sind die Bence-Jones-Proteine. Bei diesem Eiweiß handelt es sich um leichte Ketten der Immunglobuline (vgl. Abschnitt „Antigene und Antikörper“), die von krebsartig wuchernden Immunzellen (Plasmazellen) in großen Mengen ausgeschüttet werden. Auch hier handelt es sich um Moleküle, die normalerweise im Serum nachzuweisen sind, aber durch ihre hohe Konzentration auf eine lymphatische Tumorerkrankung hinweisen.
Zu einer weiteren Gruppe tumorassoziierter Moleküle gehören die sog. onkofetalen Antigene. Ihnen ist gemein, daß sie auftreten, wenn in den Tumorzellen Gene „angeschaltet“ werden, die normalerweise nur in der Embryonalphase aktiv sind. Die auf diese Weise synthetisierten Proteine werden in die Blutbahn freigesetzt und so der Diagnostik zugänglich. In der diagnostischen Praxis spielen vor allem das mit kolorektalen malignen Darmtumoren, dem Brochialkarzinom und dem Brustkrebs assoziierte karzinoembryonale Antigen (CEA) und das mit dem Leberzellkarzinom (aber auch mit gutartigen Lebererkrankungen) assoziierte Alpha-1-Fetoprotein (AFP) eine wichtige Rolle. Das CEA wird u.a. zur Überwachung des Fortschreitens des Tumorwachstums bzw. der Metastasierung und der Verlaufskontrolle nach Tumorentfernung eingesetzt.
Fazit: Fast alle Krebserkrankungen beruhen auf einer Akkumulation von verschiedenen genetischen Defekten in einer Zelle, die überwiegend im Laufe des Lebens erworben werden oder sich zu ererbten Defekten addieren. Erst wenn Schutzmechanismen wie die DNS-Reparatur oder die immunologische Abwehr nicht mehr greifen, der programmierte Zelltod und andere Stoffwechselprozesse in einer Zelle die Fehler nicht mehr kompensieren können, kommt es zu einer bösartigen (malignen) Entartung und einem unkontrollierten Wachstum der Zellen. Es gibt kaum molekulare Anzeiger, die spezifisch von den Krebszellen erzeugt werden und so der Diagnostik dienen könnten. Typisch ist für einige Krebsarten das Wiederauftreten von Molekülen, die sonst nur in der Embryonalphase synthetisiert werden. Meist handelt es sich jedoch um Moleküle, die normalerweise auch produziert werden, jedoch bei Krebskranken in höheren Konzentrationen zu finden sind. Ähnliches gilt für Krebserkrankungen von weißen Blutzellen (Leukämien), die mit einer verstärkten Produktion von Zellen charakteristischer Reifungsstadien einhergehen.