Normal – Unnormal – Gesund – Krank

Bisher haben wir uns mit den qualitativen molekularen Unterschieden zwischen den Individuen beschäftigt, die in der Regel durch Differenzen in der Molekülstruktur bedingt waren. Darüberhinaus existieren aber zwischen den Individuen zum Teil beträchtliche individuelle Unterschiede hinsichtlich der Quantität bestimmter analytischer Parameter [1].

Tab. 14: Ausschnitt aus einem Befundbogen (Check-up)
Parameter Resultat Dimension Normbereich
Gamma-GT 0.24 µmol/l < 0.82
Creatininkinase 2.81 µmol/l < 2.87
Myoglobin 60.0 ng/ml 7 – 65
Kreatinin 82.0 µmol/l < 127
Harnstoff 7.33 mmol/l 1.7 – 8.3
Harnsäure 270 µmol/l < 425
Triglyceride 1.09 mmol/l < 1.71
Cholesterin (gesamt) 5.95 mmol/l < 5.2

Die meisten von uns haben sicher schon die Erfahrung machen müssen, daß anläßlich einer Reihen- oder Vorsorgeuntersuchung oder eines krankheitsbedingten Arztbesuches mehr oder weniger bedeutsame Abweichungen von den „Normalwerten“ festgestellt wurden (Tab. 14). Was ist also normal und was ein Indiz, das auf eine krankhafte Veränderung im Körper hinweist?

Zuerst einmal einige Worte zu den „Normalwerten“, die in der Fachsprache „Referenzbereiche“ – also Bezugswerte – genannt werden (Übersicht). In der Regel werden diese Werte durch die Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe vieler tausend oder gar hunderttausender Probanden erhoben. Dabei wird davon ausgegangen, daß diese Personen „klinisch gesund“ sind, d.h. ohne subjektive Beschwerden und hinsichtlich definierter Parameter (Blutdruck, Körpertemperatur u.a.) keine anderen paraklinischen (labormäßigen) Auffälligkeiten aufweisen. Mit den Begriffen Referenzwert oder Referenzbereich verbindet man daher in erster Linie eine Entscheidungsmöglichkeit zwischen gesund und krank. Es gibt aber auch Situationen, in denen mittels labordiagnostischer Befunde entschieden werden kann, ob eine Behandlung erforderlich bzw. nicht erforderlich ist oder ein Behandlungserfolg eingetreten ist oder eine Behandlung erfolglos war (Monitoring).

Abb. 30: Statistische Festlegung der Entscheidungsgrenze zwischen "gesund" und "krank"
Abb. 27: Statistische Festlegung der Entscheidungsgrenze zwischen „gesund“ und „krank“

Die Entscheidung zwischen gesund und krank setzt voraus, daß es eine sichere wissenschaftlich begründete Entscheidungsgrenze gibt. Mathematisch gesehen liegt dieser Punkt bei 96% aller erhobenen Meßwerte dieser Referenzgruppe. Allerdings gibt es eine Überschneidung mit der Kurve aus den Meßwerten aller kranker Probanden. Letztere ragt in das obere (oder untere) Ende der Kurve von klinisch Gesunden hinein. So können hinsichtlich der Krank-Gesund-Unterscheidung (Abb. 27) falsch-positive und falsch-negative Bewertungen entstehen, die manchmal bei dringenden therapeutischen Entscheidungen aus einem Einzelwert zu zweifelhaften Konsequenzen führen. Um solche Entscheidungen so sicher wie möglich zu machen, werden hohe Anforderungen an die Testsysteme der Laboratorien hinsichtlich (Krankheits-) Spezifität und Sensitivität (Nachweisempfindlichkeit) gestellt.

Abb. 31: Harnsäure bei 8 Probanden
Abb. 28: Bei 8 Probanden ist in 3 Jahren mehrfach in den gleichen aufeinanderfolgenden Wochen die Harnsäurekonzentration im Blut bestimmt worden (grau: Referenzbereich)

Die gemessenen Laborwerte unterliegen z.T. sehr erheblichen individuellen Schwankungen. Abb. 28 demonstriert an 8 Probanden am Beispiel von Harnsäuremessungen die Variabilität der individuellen Werte (Mittelwert und Standardabweichung) von Mehrfachmessungen. Die drei in jeder Zeile übereinanderliegenden Balken zeigen die Wiederholung der Meßreihen in drei verschiedenen Jahren.

Abb. 32: Abhängigkeit des Serumcholesterins vom Alter und der Ernährung
Abb. 29: Abhängigkeit des Serumcholesterins vom Alter und der Ernährung

Eine zum Schmunzeln einladende kleine Grafik, mit der man demonstrieren kann, wie die individuellen Lebensumstände die individuellen molekularen Werte modifizieren können, finden Sie in Abb. 29. Hier wird der Cholesterinspiegel von zwei Gruppen von Mönchen mit unterschiedlichen Eßgewohnheiten verglichen, nämlich von Benediktinern mit einer gewöhnlichen Mischkost und Trappisten mit einer exklusiv ovo-lacto-vegetabilen (Ei-Milch-Gemüse) Ernährung. Nicht überraschend erscheint dabei die Information aus dieser Abbildung, daß die Mischkostesser in jedem beobachteten Alter vergleichsweise höhere Cholesterinwerte aufwiesen, als ihre Kollegen mit alternativer Ernährung. Interessant ist eher, daß sich – trotz unterschiedlicher Lebensweise – der bei der Untersuchung der Gesamtbevölkerung beobachtete Anstieg des Blutcholesterinspiegels mit dem Lebensalter auch hier deutlich widerspiegelt.

Tab. 15: Referenzwerte (Gesamtcholesterin) für verschiedene Altersgruppen
Gruppe alte Einheit SI-Einheit
älter als 40 Jahre < 240 mg/dl 6.2 mmol/l
30-40 Jahre < 220 mg/dl 5.7 mmol/l
20-30 Jahre < 200 mg/dl 5.2 mmol/l
jünger als 20 Jahre < 170 mg/dl 4.4 mmol/l
älter als ein Jahr < 225 mg/dl 5.8 mmol/l
jünger als ein Jahr < 190 mg/dl 5.0 mmol/l
Neugeborene < 170 mg/dl 4.4 mmol/l

Für genauere vergleichende Betrachtungen sind also verschiedene Referenzwerte erforderlich, die sich auf genau definierte Kollektive beziehen wie Männer und Frauen, bestimmte Altergruppen (Tab. 15), geographisch unterschiedliche Populationen oder Stadien einer Schwangerschaft.

Über individuelle tageszeitliche Schwankungen (Biorhythmus) werden wir an anderer Stelle in diesem Text berichten. Es gehört heute zu den Standards des klinischen Labors, daß z.B. die Blutproben in den frühen Morgenstunden in einem möglichst engen Zeitfenster abgenommen werden oder daß neben dem Morgenurin zur Untersuchung ein 24-h-Sammelurin verwendet wird, um tageszeitliche Schwankungen auszugleichen.

Eines bleibt an dieser Stelle noch zu erwähnen: Neben quantitativen individuellen Unterschieden gibt es auch rein analytische Ja-Nein-Aussagen, die nur von der Empfindlichkeit des Testsystems abhängen. Zum Beispiel besitzt ein Patient die Blutgruppe A oder im Blut eines Patienten können Antikörper gegen HIV oder Hepatitis-Viren nachgewiesen werden oder ein Wundabstrich enthält Staphylococcus-aureus-Keime. Hier steht also der reine Nachweis eines individuellen Sachverhaltes im Vordergrund, wobei in manchen Fällen eine grobe Abschätzung der Menge des nachgewiesenen Agens möglich ist (z.B. Antikörpertiter, grobe Keimzahl).

Fazit: Klinisch-biochemische Referenzwerte („Normalwerte“) werden aus den Untersuchungsergebnissen von großen Kollektiven klinisch Gesunder abgeleitet. Allerdings erfordert eine differenzierte Zuordnung der Werte zu den Kategorien „gesund“ oder „krank“ unterschiedliche Referenzwerte für verschiedene Kollektive (Männer und Frauen, bestimmte Altersgruppen, Stadien einer Schwangerschaft oder geographisch unterschiedliche Populationen).

[1] Williams, R.J.: „Biochemical Individuality“ New Canaan: Keats Publishing Inc., 1998 [ISBN: 0879838930]