Mutationen

Veränderungen im Erbgut eines Organismus werden als Mutation bezeichnet. Die Mutation als ein unter natürlichen Bedingungen mehr oder weniger zufälliger Prozeß ist die zwingende Voraussetzung der Weiterentwicklung der belebten Welt. Sie ist die Mutter der Vielfalt, die im Rahmen der Auslese zur Mutter der Evolution wird. Aber auch unsere Menschwerdung verläuft nach dem (gleichen) Prinzip: spontane molekulare Veränderungen und Anpassung durch Auslese. Nur geht hier alles nicht so schnell und selten für uns sichtbar vonstatten.

Veränderungen des genetischen Materials durch Mutationen können meist durch interne Reparaturmechanismen kompensiert werden. In bestimmten Fällen gelangen sie jedoch über die Keimbahn, also die Keimzellen, in den Organismus der nachfolgenden Generation. Viele Mutationen treten nur während des Individuallebens auf, werden also nicht vererbt. Sie müssen aber nicht zwangsläufig zu Krankheit oder Tod führen, insbesondere in solchen Fällen, wo sie keine kodierenden Bereiche der DNS betreffen. Die Methode des „genetischen Fingerabdrucks“, auf den wir später noch zu sprechen kommen werden, nutzt die Veränderungen in den nichtkodierenden Bereichen der DNS, um die Übereinstimmung oder Unterschiede hinsichtlich der molekularen Identität zweier DNS-Proben festzustellen.

In Abhängigkeit vom Umfang der Veränderungen können Punkt-, Gen- und Genommutationen unterschieden werden. Mutationen treten spontan auf oder werden durch physikalische oder chemische Einflüsse induziert. Bewußte und gezielte Eingriffe in das Erbgut (Gentechnik) oder Veränderungen des genetischen Materials bei Kreuzungen werden nicht als Mutation bezeichnet. Gleiches gilt für die Rekombination von Erbgut bei der Entstehung der Keimzellen, wie oben gezeigt wurde.

Bleiben wir noch einen Moment auf der Ebene des genetischen Kodes. Es wurde schon angedeutet, daß der Austausch, der Verlust oder das Hinzufügen eines oder weniger Basenpaare zu mehr oder weniger dramatischen Folgeprodukten auf der Proteinebene führen kann. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Sichelzellanämie, ein schweres Erbleiden des Menschen. Durch den Austausch eines einzigen Basenpaares wird die Information erzeugt, im Hämoglobin der roten Blutzellen anstelle der Aminosäure Glutaminsäure die Aminosäure Valin einzubauen. Dies hat zur Folge, daß bei Sauerstoffmangel die Blutzellen zur Sichelform schrumpfen, starr werden und die Blutgefäße verstopfen. Die Schwere der Erkrankung hängt allerdings davon ab, ob dieses veränderte Merkmal von beiden Eltern (homozygot) oder nur von einem Elterteil (heterozygot) vererbt wurde. (vgl. Abschnitt „Erbkrankheiten“).

Wie bereits angedeutet wurde, müssen solche Punktmutationen auch in den kodierenden Bereichen nicht zwangsläufig Krankheit und Tod bedeuten. Die sogenannten stillen Mutationen ziehen keine funktionellen Veränderungen nach sich. Die Ursache liegt in der Tatsache begründet, das gleiche Aminosäuren durch unterschiedliche Basensequenzen kodiert werden können (vgl. Abschnitt „Vom Gen zum Eiweiß“) Sie sind also „nur“ ein evolutionärer Beitrag zur molekularen Vielfalt und finden gleichermaßen in Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren täglich und stündlich auf unserem Planeten statt. Lange Ausleseprozesse, bei denen immer neue Formen und Arten von Lebewesen entstehen, führen so zu einer immer neuen , „höheren“ Entwicklungsstufe der lebendigen Welt oder enden in einer Sackgasse der biotischen Entwicklung. Diesen Prozess der Erzeugung neuer Vielfalt und nachfolgender natürlicher Auswahl nennen wir Evolution.

Nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse sind nicht alle Abschnitte des Genoms gleichermaßen anfällig für Mutationen. Es wurden sogar sog. Mutatorgene entdeckt, die die Labilität gegenüber bestimmten Auslösern von Mutationen (Mutagenen) steuern und so zusätzlich zur molekularen Variablität beisteuern. Der nichtkodierende Anteil der Erbinformationen unterliegt jedoch nicht diesem Selektionsmechanismus. Daher werden alle Mutationen, sofern sie in die Keimbahn gelangen, in diesem Bereich erhalten und weitervererbt, da sie keinerlei selektierende Wirkung auf das Überleben des Individuums besitzen. Deshalb sind molekulare Unterschiede im nichtkodierenden Anteil der DNS um ein Vielfaches höher als im Bereich der kodierenden Gene.

Spontanmutationen. Die Teilung einer Körperzelle setzt voraus, daß auch das Erbmaterial verdoppelt und auf die neu entstehenden Tochterzellen verteilt werden muß. Die DNS-Stränge müssen dafür neu synthetisiert werden. Das sind Millionen von Arbeitsschritten, die bei der identischen Kopierung der DNS-Stränge vollzogen werden müssen. Dabei sind Fehlleistungen nicht ausgeschlossen, die in der Regel jedoch von speziellen Reparaturenzymen wieder kompensiert werden. In wenigen Fällen bleiben die Fehlleistungen ohne Reparatur und werden bei den nächsten Teilungsschritten an die Tochterzellen weitergegeben. Obwohl unser Organismus in der Lage ist, mit diesen kleinen Fehlern ohne Störungen weiter zu existieren, können viele kleine Veränderungen, besonders wenn sie sich in existenziell bedeutsamen Bereichen des Genoms abspielen, über die Zeit und in der Summe zu Veränderungen oder Einschränkungen wichtiger Körperfunktionen führen. Beim Menschen rechnet man pro Generation mit ca. 100 Mutationen [1]. Diese Zahl erscheint uns möglicherweise als sehr gering. Sie kann aber tödlich sein, wenn sie überlebenswichtige Proteine betrifft.

Eine Generation bedeutet für uns Menschen ca. 30-40 Jahre, die Zahl der Nachkommen ist auf wenige Individuen beschränkt. Nur Mutationen, die im Verlaufe eines Lebens in die Keimbahn gelangt sind, können auf die folgende Generation weitergegeben werden. Hier liegt die Ursache dafür begründet, warum bei höher entwickelten Organismen sichtbare Veränderungen erst nach langen Zeiträumen auftreten. Überträgt man die obengenannten Mutationsraten auf Mikroorganismen wie Bakterien oder Viren mit Teilungs- bzw. Vermehrungsintervallen von Minuten oder Stunden und Myriaden von Nachkommen, so ist zu erwarten, daß nachweisbare Veränderungen des Genoms bereits nach Stunden, Tagen, Wochen oder Monaten festgestellt werden können. Dazu kommt die Tatsache, daß Bakterien und Viren keine Keimzellen zur Fortpflanzung benötigen. So werden bei diesen Mikroorganismen die genetischen Veränderungen unmittelbar an die Nachkommen weitergegeben.

Tab. 4: Mutationen bei Bakterien (G = Generationen (Teilungen); n = Anzahl Bakterien; x = Anzahl Mutationen)
G n x
1 1 0,0
2 2 0,0
3 4 0,0
4 8 0,0
5 16 0,0
6 32 0,0
7 64 0,0
8 128 0,0
9 256 0,0
10 512 0,0
11 1.024 0,0
12 2.048 0,0
13 4.096 0,0
14 8.192 0,0
15 16.384 0,0
16 32.768 0,0
17 65.536 0,0
18 131.072 0,0
19 262.144 0,0
20 524.288 0,1
21 1.048.576 0,1
22 2.097.152 0,2
23 4.194.304 0,4
24 8.388.608 0,8
25 16.777.216 1,7
26 33.554.432 3,4
27 67.108.864 6,7
28 134.217.728 13,4
29 268.435.426 26,8
30 536.870.912 53,7
31 1.073.741.824 107,5
32 2.147.483.648 214,7
33 4.294.967.296 429,5
34 8.589.934.592 859,0
35 17.179.869.184 1718,0
36 34.359.738.368 3436,0

Um eine Vorstellung zu bekommen, um welche Größenordnungen und welchen Zeitrahmen es sich in Bezug auf Mutationen bei Mikroorganismen handelt, soll folgendes Beispiel zitiert werden: Unter optimalen Bedingungen teilen sich die Bakterien des weit verbreiteten Stammes Echerischia coli alle 20 Minuten. Wenn man davon ausgeht, daß die Mutationsraten bei Bakterien etwa 1: 10.000.000 betragen, so wird nach einer entsprechenden Anzahl von Teilungen ein mutiertes Gen x zu erwarten sein. Dies wäre entsprechend Tab. 4 theoretisch nach etwa 24 Teilungen (Generationen) oder 8 Stunden der Fall. Nach 12 Stunden (36. Generation) unseres Experiments sind aber nicht etwa eineinhalb Mal so viele Mutationen zu erwarten, sondern wegen der exponentiellen Vermehrung bereits 3000 Mutationen.

Tab. 5: Empfehlungen der WHO zur Zusammensetzung eines Grippe-Impfstoffes für die nördliche Hemisphäre für verschiedene Zeiträume
Zeitraum Influenzastämme
2013-2014 A/California/7/2009 (H1N1)    „Schweinegrippe“
A/Viktoria/361/2011 (H3N2)
B/Massachusetts/2/2012
2012-2013 A/California/7/2009 (H1N1)    „Schweinegrippe“
A/Viktoria/361/2011(H3N2)
B/Massachusetts/2/2012
2011-2012 A/California/7/2009 (H1N1)    „Schweinegrippe“
A/Perth/16/2009 (H3N2)
B/Brisbane/2008
2010-2011 A/California/7/2009 (H1N1)    „Schweinegrippe“
A/Perth/16/2009 (H3N2)
B/Brisbane/2008
2009-2010 A/Brisbane/59/2007(H1N1)
A/Brisbane/10/2007(H3N2)
A/Brisbane/60/2008/

In der hohen Mutationsrate der Krankheitskeime liegen z.B. auch die Mißerfolge mancher prophylaktischer Schutzimpfungen (z.B. gegen Grippe) begründet. Die Wirkung eines Impfstoffes kann durchaus in einer Region der Welt erfolgreich sein, in einer anderen, in der der Seuchenzug von einem genetisch veränderten (mutierten) Mikroorganismus beherrscht wird, nicht. Deshalb verfolgen die nationalen und internationalen Gesundheitsbehörden mit höchster Aufmerksamkeit die Veränderung und das Auftreten neuer molekularer Marker von gesundheitsrelevanten Mikroorganismen, um rechtzeitig durch Anpassung regionaler Impfprogramme vorbeugend wirksam zu werden. Tabelle 6 zeigt einen Auszug aus einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die nördliche Hemisphäre unserer Erde. Dargestellt sind die empfohlenen Influenzastämme für die Zusammensetzung der Vakzine (Impfstoffe) gegen die Virusgrippe in verschiedenen Jahren.

Das enge Zusammenleben von Mensch und Tier begünstigt das Überspringen von mutierten Erregern auf den Menschen, die normalerweise nur im Tier vorkommen. Durch Mutationen können immer wieder Erregervarianten entstehen, die für den Menschen außerordentlich gefährlich sind. So breitete sich im Januar 1997 plötzlich eine Mutante des Grippe-Erregers in einer Hühnerpopulation Hongkongs aus, die beim Menschen zu einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung führte. Ähnliches wurde für den Ausbruch der Vogelgrippe im Januar 2004 in Südostasien und 2006 in Deutschland sowie die Schweinegrippe im April 2009 in Mexiko befürchtet. Hier zeigt sich exemplarisch, wie durch die kurze Generationsfolge der Viren und die damit verbundene Mutationswahrscheinlichkeit manifeste molekulare Veränderungen in einem Mikroorganismus entstehen können, die allerdings für das Virus einen wichtigen Selektions- und Verbreitungsvorteil bringen.

Und noch ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen von Mutation und Selektion: Die kurze Generationsfolge, die hohe Zahl an Nachkommen, die hohen Mutationsraten sowie die nachfolgend positiv gerichtete Selektion kann als Ursache für das Auftreten von Resistenzen bei Bakterien und Insekten angesehen werden. Es ist heute ein großes medizinisches Problem, daß viele Bakterienstämme Resistenzen gegen häufig verwendete Antibiotika entwickelt haben, z.B. gegen Streptomycin oder Penicillin. Ähnliche Resistenzen gibt es bei Insekten gegen bestimmte Kontaktgifte (z.B. DDT), die zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden. So können sich resistente Varianten wegen ihres hohen Selektionsvorteils in der Gegenwart von Insektiziden oder Antibiotika sehr schnell in einer Population – zum Nachteil für den Menschen – durchsetzen.

Induzierte Mutationen. Hierbei handelt es sich im Vergleich zu den Spontanmutationen um Veränderungen des Erbgutes durch absichtliche oder ungewollte physikalische oder chemische Einwirkungen. Bekannte Beispiele sind die gut belegten Folgeschäden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki im Sommer 1945 und der US-amerikanischen und sowjetischen oberirdischen Atomtests in den vergangenen 60 Jahren. Auch Strahlenschäden in der Nähe von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen haben ihren Tribut gefordert, ja sogar natürliche Strahlenquellen – namentlich das kurzwellige ultraviolette „Licht“ – stellen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das Erbgut dar. Daneben findet sich eine Reihe von Chemikalien, die mutagen (das Erbgut schädigend) sind und als solche – soweit bekannt – gekennzeichnet werden müssen. Aber vieles ist bisher noch unbekannt und viele neue Stoffe sind erst in der Entwicklung. Vielleicht ist die Zunahme bestimmter komplexer Krankeitsbilder wie die „Allergien“ ein ernstzunehmender erschreckender Vorbote für eine zukünftige Entwicklung.

Tab. 6: Beispiele für Genommutationen
Trisomie 21 Chromosom 21 dreifach Down-Syndrom (Mongolismus), kurzer Schädel, schmale Lidspalte, Herzfehler, meist geistig behindert und geringe Lebenserwartung
Trisomie 13 Chromosom 13 dreifach Patau-Syndrom: taub, teils blind, schwere Fehler an Herz, Nieren und Kleinhirn
Turner-Frauen Nur 1 X-Chromosom (X0) phänotypisch weiblich, haben jedoch keine funktionsfähigen Eierstöcke
Poly-Frauen Mehr als 2 X-Chromosomen (XXX, XXXX) meist unauffällig
Klinefelder-Syndr. 2 X- und 1 Y-Chromosom (XXY) intersexuelle Männer mit unterentwickelten Geschlechtsorganen
Diplo-Y-Männer Mehrfaches Y-Chromosom (XYY, XXYY) meist unauffällig

Genommutationen. Neben Mutationen, die nur einzelne Nukleotide oder Nukleotidsequenzen erfassen, kennt man Mutationen, die die Gesamtzahl oder die Integrität ganzer Chromosomen betreffen (Genmutationen). Solche Abweichungen von der normalen Anzahl einzelner Chromosomen entstehen in der Regel während der Meiose, also bei der Bildung der Keimzellen. Ursache ist die fehlerhafte Trennung einzelner der paarigen Chromosomen in den Keimzellen, so daß nach der Befruchtung Embryonen mit abweichender Zahl einzelner Chrosomen entstehen (Monosomie, Trisomie u.a.). Tab. 6 listet einige dieser Chromosomenveränderungen des Menschen und ihre klinischen Auswirkungen auf.

Fazit: Veränderungen des Erbgutes in Form von Mutationen finden ständig statt und bilden die natürliche Grundlage der Evolution durch Auslese. Meist handelt es sich um den Austausch oder den Verlust nur eines Nukleotidbausteins ohne negative existenzielle Auswirkungen. Die Akkumulation mehrerer Mutationen kann zu sichtbaren Störungen oder Erkrankungen führen. Mutationen an Mikroorganismen wie Bakterien und Viren können die Ursache für die Ausbildung von Resistenzen gegen Medikamente sein.

[1] Matt Ridley: Alphabet des Lebens – Die Geschichte des menschlichen Genoms (2. Aufl.) S. 16 München: Claassen Verlag, 2001 [ISBN: 3546002261]