Das Schlüssel-Schloss-Prinzip

An vielen Stellen der vorliegenden Schrift wird uns der Begriff der Komplementarität begegnen. Dabei handelt es sich um das sogenannte Schlüssel-Schloss-Prinzip, das wir überall in der belebten Natur verwirklicht finden. Einfach gesagt handelt es sich darum, dass zwei molekulare Strukturen zueinander passen müssen, um eine bestimmte Funktion erfüllen zu können, eben wie Schlüssel und Schloss (Abb. 2).

Abb. 2: Schlüssel-Schloss-Prinzip - Links: Spezifische Rezeptoren reagieren nur mit ihren "passenden" komplementären
Abb. 2: Schlüssel-Schloss-Prinzip – Links: Spezifische Rezeptoren reagieren nur mit ihren "passenden" komplementären

Molekülstrukturen; Rechts: Ähnlich verhält es sich bei der Reaktion komplementärer Strukturen an der Oberfläche zweier Zellen; In beiden Fällen führt die Reaktion zur Auslösung spezifischer Signalketten.

  • So sind Antikörper gegen eine spezifische komplementäre molekulare Antigenstruktur gerichtet. (vgl. Abschnitt „Antigene-Antikörper„)
  • Oberflächenstrukturen von zirkulierenden Zellen brauchen passende Strukturen, um „nach Hause“ zu finden (vgl. Abschnitt „Homingmoleküle„).
  • Viren benötigen zur Infektion ihres Wirtes spezifische molekulare „Andockstellen“.
  • Immunzellen, die funktionell zusammenarbeiten, benötigen an ihrer Membranoberfläche Moleküle, die bestimmte Oberflächenmoleküle der kooperierenden Zellen als Eigen und gleichzeitig das molekular Fremde als fremd erkennen (vgl. Abschnitt „Immunologische Erkennung von Selbst und Fremd„.)
  • Hormone brauchen z.B. einen (strukturell) passenden Rezeptor, um an spezifischen DNS-Abschnitten genregulativ wirken zu können (vgl. Abschnitt „Genregulation„).
  • Spermien müssen ein bestimmtes Glykoprotein an der Oberfläche der Eizelle vorfinden, um in sie einzudringen zu können, artfremde Spermien haben an dieser Stelle keine Chance; umgekehrt kann die Selbstbefruchtung bei Blütenpflanzen verhindert werden, wenn die männlichen Pollen mit den weiblichen Blütenteilen der gleichen Pflanze zusammentreffen (vgl. Abschnitt „Selbstinkompatibilität„).
  • Alle Zellen in Zellverbänden (Gewebe, Organe) besitzen an ihrer Membranoberfläche Strukturen und komplementäre Gegenstrukturen, die Teil der Kommunikation zwischen den Zellen sind und zum strukturellen und funktionellen Zusammenhalt beitragen.

Bei der Entwicklung verschiedener diagnostischer Untersuchungsverfahren wird das Prinzip der Komplementarität umfangreich genutzt, so für die Immundiagnostik (Blutgruppenbestimmung, Gewebetypisierung, Infektionsdiagnostik) oder in molekularbiologischen („genetischen“) Diagnostikverfahren wie dem „genetischen Fingerabdruck“, dem Vaterschafts-Ausschlusstest oder dem Nachweis genetischer Anomalien. Alle diese Untersuchungen beruhen darauf, dass die Testreagenzien mit bekannter molekularer Spezifität komplementär zum Untersuchungsmaterial sind und ihre Bindung oder Reaktion das Vorhandensein der Zielstruktur anzeigt. In vielen Fällen werden die immunologischen oder molekulargenetischen Verfahren dazu eingesetzt, um individuelle molekulare Besonderheiten (z.B. Blut- und Gewebemerkmale) nachzuweisen oder Krankheitsrisiken abzuschätzen.

Fazit: Die gezielte Kooperation der Zellen und die Realisierung der meisten makromolekularen Prozesse in einem Organismus gründen sich auf der Komplementarität ihrer molekularen Strukturen. Darüberhinaus ist das Schlüssel-Schloss-Prinzip notwendige Voraussetzung für die Zellkooperation und die Unterscheidung von Selbst und Fremd.